Botulinumtoxin A in der Schmerztherapie der Haltungs-
und Bewegungsorgane
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jörg Jerosch
Seit Mitte der achtziger Jahre wird Botulinumtoxin A (BTX-A) weltweit bei zahlreichen Erkrankungen, die durch eine pathologisch erhöhte Muskelaktivität charakterisiert sind, erfolgreich angewendet.
Dazu zählen insbesondere fokale Dystonien (z.B. Blepharospasmus, Torticollis, spasmodische Dysphonie) sowie spastische Bewegungsstörungen, z.B. bei MS, nach Schlaganfall oder bei cerebralparetischen Kindern. Die aktuelle Forschung befaßt sich mit einer Vielzahl weiterer Anwendungsgebiete, insbesondere in der Schmerztherapie.
Wo und wie wirkt BTX-A?
BTX-A wirkt an der neuromotorischen Endplatte, wo das Toxin präsynaptisch bindet und die Freisetzung des Neurotransmitters Acetylcholin verhindert.
Dies führt zu einer Muskelrelaxierung. Die Wirkung setzt nach etwa 5-10 Tagen ein und hält 3-6 Monate an, bevor es zu einer Regeneration der motorischen Endplatten kommt und die Störung erneut auftritt. Kontinuierliche Behandlungen bei fokaler Dystonie sind bislang über 15 Jahre beschrieben. Jährlich werden mehrere hunderttausend Patienten erfolgreich behandelt.
Sowohl bei dystonen als auch bei spastischen Bewegungsstörungen führt BTX-A weiterhin zu einer erheblichen Besserung der meistens zusätzlich vorhandenen Muskelschmerzen. Die Linderung der Schmerzen tritt dabei häufig deutlich vor der Reduktion der Muskelaktivität ein (Chalkiadaki et al. 2001).
Weiterhin kann die Schmerzreduktion stärker ausgeprägt sein als die muskuläre Relaxation. Diese klinischen Beobachtungen lassen einen komplexeren Wirkmechanismus des BTX-A vermuten. So beeinflußt BTX-A auch die sensorischen Muskeleigenschaften, indem die Muskelspindelaktivität reduziert wird. Zudem erlaubt die anhaltende Muskelentspannung eine Dekompression sensorischer Muskelfasern und muskulärer Blutgefäße. Weiterhin wird diskutiert, dass BTX-A auch die lokale Ausschüttung von Neuropeptiden wie z.B. Substanz P hemmen könnte (Göbel et al. 2001).
Therapie myofascialer Schmerzen der Skelettmuskulatur
Eine weit verbreitete Ursache chronischer regionaler Schmerzen der Skelettmuskulatur ist das myofasciale Schmerzsyndrom. Die Muskulatur weist einzelne oder multiple schmerzhafte und palpierbare Muskelverhärtungen, sog. Triggerpunkte auf. Die Endplattenhypothese besagt, dass diese durch ein lokales Muskeltrauma und zeitweise Überlastung mit Ischämie entstehen, so dass lokal vermehrt Acetylcholin ausgeschüttet und eine begrenzte Population neuromuskulärer Endplatten geschädigt wird. Durch die anticholinerge Wirkung und anhaltende Muskelentspannung kann BTX-A das Muskeltrauma ursächlich beenden (Mense 1999).
Seit 1994 wurden einige erfolgreiche Einzelfallberichte und Studien zur Behandlung myofascialer Schmerzen der Schulter- und Nackenregion (Acquardo und Borodic 1994; Cheshire et al. 1994; Söhling 2002), der Mm. piriformis, iliopsoas und
scaleneus (Porta 2000) sowie beim assozierten Muskelschmerz nach Schleudertrauma (Freund und Schwarz 1999) mit BTX-A beschrieben.
Die Injektionsstrategie sollte individuell für jeden Patienten festgelegt werden und die Injektionen gezielt in die Triggerpunkte erfolgen. Bei Patienten, die kurzzeitig von der Behandlung mit Lokalanästhetika profitieren, können bereits geringe Dosen BTX-A zu deutlich längeren schmerzfreien Intervallen führen. Dadurch kann die Schmerzmedikation erheblich gesenkt werden und die Patienten können die schmerzfreie Zeit nutzen, um ihre Muskelkraft gezielt aufzutrainieren.
"Low back pain" (Lumbalgie)
Auch Schmerzen an der Lendenwirbelsäule (unspezifische Lumbalgien, low back pain) ohne Bezug zu einzelnen Nervenwurzeln haben häufig eine muskuläre Ursache, die mit Triggerpunkten und einer erhöhten paraspinalen Muskelaktivität einhergeht. Das Rationale der Behandlung mit BTX-A besteht darin, die muskulären Dysbalancen zu beheben und den Circulus vitiosus von Schmerz, Verspannung und wiederum Schmerz zu durchbrechen (Foster et al. 2001). Die Injektionen werden paravertebral, im sicheren Abstand zur Wirbelsäule, in die muskulären Triggerpunkte appliziert.
Epicondylopathie
Bei der Epicondylopathie liegt eine chronische Überbeanspruchung mit Degeneration im Sehnenansatzbereich der an den Epicondylen entspringenden Muskulatur vor.
Der Epicondylus ist dadurch druckempfindlich und die Bewegungsfähigkeit eingeschränkt. BTX-A wird hier fokal in die Hand- und Fingerextensionsstrecker injiziert, so dass eine partielle und reversible Lähmung der betreffenden Muskulatur erfolgt. Dadurch entsteht ein Bewegungszuwachs in Flexionsrichtung, die funktionelle Verkürzung der betreffenden Muskulatur wird gelöst und das auslösende Schmerzmoment durchbrochen (Morre et al. 1997, Kaizer et al. 2002, Placzek und Meiss 2002).
Schlussfolgerung
Bei chronischen, therapieresistenten Schmerzen der Skelettmuskulatur stellt BTX-A eine neue Behandlungsoption dar. Die verwendeten Wirkstoffmengen sind gering, die Verträglichkeit und Sicherheit sind bei korrekter Anwendung hoch und die Wirkung hält über Wochen an.
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